Ulla Hahn: Das verborgene Wort – „Lommer jonn“

Hier kommt mal keine CD-Empfehlung, sondern eine für ein Buch: Ulla Hahns „Verborgenes Wort“. Nun gut, im Hintergrund läuft Beethovens Streichquartett B-Dur, op. 130. Das wäre auch eine Empfehlung wert. Aber zum guten Buch:

Auf der Suche nach Lesenswertem frage ich immer wieder mal im Freundeskreis nach. Ich lese nicht immer, nicht einmal sonderlich viel, aber doch immer wieder gerne, phasenweise. Das darf dann gerne mal trivial sein, „Vollidiot“, „Resturlaub“ oder auch „Feuchtgebiete“, reine Zeitverschwendung übrigens, sind Beispiele solch belanglosen aber überwiegend vergnüglichen Zeitvertreibs. So wie man von Fastfood zwar satt, nach höherer Dosis seiner aber auch schnell überdrüssig wird, so beginnt dann bald die Suche nach dem guten Buch.

Eine Idee kam von Claus Peymann – nicht, dass der nun zu meinem Freundeskreis gehörte – der mit großer Begeisterung den Radetzkymarsch empfahl; mit solch einer Emphase, dass ich gar nicht anders konnte, als dieses Buch zu kaufen. Eine Lektüre, die dem bildungsbürgerlichen Anspruch des „gelesen-haben-Müssens“ durch seine Kanontauglichkeit außerdem entgegenkommt. Und davon gehört hatte ich sowieso.
Noch nie gehört hatte ich vom „Verborgenen Wort“. Von Ulla Hahn schon, aber auch nicht mehr als gehört – ich hätte sie als Autorin bei „Wer wird Millionär“ für eine geldwerte Antwort erkannt. Und dann kam Bettina und empfahl mir Bücher, die sie sehr gerne gelesen hatte und empfahl mir das Buch, das sie ganz besonders gerne gelesen, genossen, aufgenommen und erfahren hatte: Das verborgene Wort.

Nicht ganz einfach sei es, leicht zu lesen (von vielen Passagen in kölschem/rheinischem Dialekt abgesehen), aber keine leichte Kost, umfangreich noch dazu. Sechshundert Seiten Taschenbuch wollen bewältigt werden, für mich als nicht-so-viel-Leser auch nichts für zwischendurch. Der Begeisterung einer Freundin – im Gegensatz zu Peymann einer echten – konnte ich mich aber auch nicht entziehen, zu kostbar schien diese Lektüre, als dass man sie so nebenbei empfahl. Etwas besonderes müsse dieses Buch wohl sein, dachte ich mir. Ging los und kaufte es. Und stellte es ins Regal. Zum Radetzkymarsch. Und zu anderen Büchern, die gerade jetzt wieder in nervöser Regungslosigkeit darauf hoffen, als nächstes von mir zum Lesen auserwählt zu werden. Glaube ich jedenfalls…

Ich habe die 620 Seiten jedenfalls gerade hinter mich gebracht, mit einer fast zweiwöchigen Pause zwischendurch, die angefüllt war von der Hochzeit Bettinas. Ein guter Grund jedenfalls, ihre Empfehlung etwas ruhen zu lassen, es schadet dem Buch auch gar nicht, wie ich diese Woche festgestellt habe. Nun ist mir wegen der zähflüssigen Beeinträchtigung einer bakteriellen Arglist wider meinen Körper zwar nicht ganz wohl, aber die mit Myrtenöl, Antibiotikum und literweise Tee bekämpfte Erkrankung hat den Vorteil, dass ich die Zeit zum Lesen wiedergefunden habe und von der Ablenkung durch das Leben und die Jugend der Hildegard Palm profitiere.

Es ist eine Art heißer Buchstabensuppe, die zur Genesung und zum geistigen und seelischen Wohlergehen beiträgt und zu deren Genuss ich allseits auffordern und ermuntern möchte. Reichlich. Es ist ein ergreifendes, einnehmendes Buch, ein intimes, von der Biographie der Autorin geprägtes Bekenntnis zu den Fährnissen ihres Lebens als Kind und Jugendlicher, eines armseligen, brutalen, entbehrungsreichen, einfachen, erzkatholischen, engstirnigen, bildungsfernen, amusischen, harten Nachkriegslebens, das einem nahe geht und beim Blick auf die eigenen Eltern schmerzliche Einblicke in deren Schicksal und Erleben gewährt, so nahe am eigenen…

Und doch so fern, zum Glück! Die Gnade der späteren Geburt ist meiner Generation eigen, und das Glück, dass unsere Eltern viel von ihrem Leid kompensieren konnten. Ein Licht auf die Zeit zwischen 1945 und dem Anfang der Sechziger Jahre, auf die Eltern der Nachkriegsgeneration und damit auch auf unsere, auf meine Großeltern. Unfassbar, erschreckend und berührend. Kleinbürgerlich. Kleingeistig. Ultrareligiös. Und doch mit viel Licht, Humor und einer eigenen Leichtigkeit, die einen einnimmt für dieses fremde, seltsam bekannte Leben – unsere Kindheit, unser Erwachsenwerden, Sorgen, Nöte, Peinliches, Großes, Kleines, Alltägliches. Wir haben es alle erlebt, so oder so ähnlich. Dieses Buch ist die ernsthafte Mutation der „Generation Golf“. Ein großes Buch.

Ich brauche ein bisschen Abstand von Hilde, freue mich aber jetzt schon auf die Fortsetzung, die unter dem Titel „Aufbruch“ gerade erschienen ist.
Es gibt eine Verfilmung, die bereits auf Arte lief – ich kenne sie nicht, empfehle aber allen, den Schirm dunkel zu lassen und sich der Helligkeit dieser 600 Seiten hinzugeben. Es lohnt sich sehr!

Ulla Hahn: Das verborgene Wort ©dtv

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