Bach: Weihnachtsoratorium – Lebkuchen für die Ohren

Bereite Dich, Deutschland,
und lass Dich betören,
ein Wunder wie dieses,
zuhause zu hören.

Diese Doppel-CD ist nun die dritte Aufnahme des Bach‘schen Weihnachtsoratoriums („WO“), die ich besitze. Das ist wahrscheinlich schon viel im Vergleich zu Otto Normalhörer. Angesichts der neun Einspielungen von Mahlers Siebter allerdings auch noch ausbaufähig… Was lockte mich? Zunächst Chaillys gute Matthäus-Passion, die ich bereits zuhause habe. Beim Hineinhören im Laden war es spontan der Zugriff Chaillys auf die Eröffnung dieses Werks: schlank, aber nicht historisch; schnell, aber nicht gehetzt; beschwingt und mit modernen Instrumenten.

Jahrelang war es Gardiner, mit dessen Aufnahme ich höchst zufrieden war. Vor einem Jahr kam dann Jacobs hinzu, mit einem frischeren Klang und anderen, ebenfalls guten Solisten. Im Nachhinein wurde mir klar, dass Jacobs aber zu wenig Neues, Anderes bietet, um seine Aufnahme dauerhaft attraktiv zu machen. Und nun war ich überrascht und gereizt von dieser neuen Lesart. Was mich bei der Leipziger Einspielung der Brandenburgischen Konzerte nur teilweise befriedigt, weil es insgesamt zwar schön, aber auch brav und mitunter etwas bieder daher kommt, erweist sich hier in meinen Ohren als willkommene Neuerung: das moderne, nicht spezialisierte Sinfonieorchester, geleitet von einem „modernen“, nicht auf HIP und Barockmusik spezialisierten Dirigenten, der überwiegend bei Mahler, Mendelssohn, Bruckner, Verdi, Rossini und moderner Musik zuhause ist.

Kräftig gegen den Strich der eigenen Hörgewohnheiten gebürstet, einen Halbton höher (!) als die beiden „alten“ Einspielungen und mit sehr viel Swing. Bach tanzt, erst recht zu Weihnachten. Und eine Portion Italianità bekommt ihr sehr gut.

Carolyn Sampson war neben Orchester und Dirigent die einzige Mitwirkende, die mir bekannt war. Ihr Mozart-Album „Exsultate, jubilate“ verdient hier gesonderte Erwähnung, weil sie damit alle anderen großen, berühmten Damen verblassen lässt, die sich dieses Werkes auf CD angenommen haben.

Auffällig zunächst, dass mit Martin und Wolfgang Lattke zwei Brüder gemeinsam auftreten. Ob es sowas schon geggeben hat, weiß ich nicht. Wiebke Lehmkuhl und Konstantin Wolff komplettieren die Solisten.

Sampson singt prima und macht ihre Sache gut. Ganz so euphorisch wie bei Mozart macht sie mich nicht, allerdings überlege ich noch, woran genau das liegt.

Wiebke Lehmkuhl hat eine sehr schöne Stimme, die mir gut gefällt und die gut zum Repertoire passt. Endlich mal eine Altistin, eine richtige Altistin! Was ich mir (oder ihr) noch wünsche ist etwas mehr Volumen im tiefen Register. Und angesichts einer Engländerin, die ihre Sache auch textlich sehr gut macht, noch wichtiger: es fehlt mir etwas an deklamatorischer Klarheit. Mit der Sprache muss man sich in meinen Ohren beim Singen schlicht mehr Mühe geben; die Kollegen auf dieser Bühne können ihr als Beispiel dienen.

Der Evangelist, Martin Lattke, macht seine Sache ebenfalls gut. Auch an seiner Stimme habe ich etwas auszusetzen: sie wird mit der Höhe etwas angestrengt und dünn, was sich bei den mehr gesungenen statt gesprochenen Passagen der Rezitative bemerkbar macht. Bereits in der Nr. 2, „Es begab sich aber zu der Zeit“, wird klar, was er kann und woran er noch arbeiten muss. Zumindest in meinen Ohren wird erkennbar, dass diese Stimme, positiv formuliert, noch Potential bestitzt. Blochwitz und Güra zeigen, wie eine Stimme klingen kann, die an solchen Stellen blüht.

Der Bruder, Wolfram Lattke, singt die Arien und ist damit genau richtig besetzt. Fließend, leicht, souverän und ungemein beweglich. Kolloraturen sitzen „in der Stimme“, die schnellen Noten sind klingende, geführte und gestützte Stimme und nicht nur pünktlich unterbrochener Luftstrom mit Klanganteil – das ist Sangeskunst, wie sie solchen Werke angemessen ist. Im Gegensatz zu geschmetterten Bravourarien romantischer Operliteratur nicht nur ganz anders, sondern sicherlich häufig in ihrer Schwierigkeit unterschätzt.

Gleichfalls zu loben ist der Bass, Konstantin Wolff. Eine volle, sonore Stimme, die vom unteren Register bis in die Lage der baritonalen Töne da ist, die Substanz zu bieten hat und nach „großem Schlund“ klingt, nie eng oder nasal wird. „Großer Herr, o starker König“ mag diesem Sänger als Motto dienen. Dieses monströs schwierige Stück wird zur souverän gemeisterten Prüfung eines Sängers, von dem ich mich freuen würde, in Zukunft mehr zu hören. Diese Vorfreude teilen sich auch Sampson und Lehmkuhl, die gerade für ihre Leistung an der Oper in Zürich im Feuilleton der FAZ sehr gelobt wird (Rossini, Guillaume Tell, 17.11.10).

Das Stimmtutti des Dresdner Kammerchors ist ein weiterer Grund zur Freude. Mit einer angemessen kleinen Besetzung wird hier gezeigt, wie man sowas singt, nicht mehr und nicht weniger. Mag es im Vergleich zum Monteverdi Choir Details geben, die man immer noch besser machen kann, so fehlt es mir doch an nichts. Das einzige, was hier nicht ideal gelöst ist, hat der Chor allerdings nicht zu verantworten. Dazu später mehr.

Das Gewandhausorchester Leipzig tritt hier in kleiner, feiner Besetzung auf. Tadellos wäre zu nüchtern. Es beginnt mit einem auffallend schnellen, tanzenden „Jauchzet, frohlocket“. Auf „normalen“ Pauken mit Naturfellen gespielt, also nicht auf Barockpauken, reißt einen der berühmte Beginn in die moderne Wiedergabe dieser Musik hinein. Gut intoniert zeigt sich das Gewandhausorchester als zeitgemäßer Anwalt dieser Musik. Nichts gegen den „Originalklang“ und die „HIP“, denen ich mit Gardiners Referenzeinspielung sehr anhänge, doch hier werden die Ohren geputzt, dass es eine Freude ist. Nach anfänglicher Skepsis, jahrelang an die teils etwas kargen Klänge der Alte-Musik-Ensembles gewöhnt, war ich schnell begeistert und bin für diese  Lesart und Spielweise eingenommen. Die Solisten des Orchesters werden erwähnt und für die Orgel wurde mit Michael Schönheit ein großer Name der Zunft gewonnen.

Die in den Brandenburgischen Konzerten im Vergleich zum ungestümen Gardiner oder Alessandrini vorherrschende brave Zurückhaltung hatte mich etwas argwöhnisch an die Aufnahme herangehen lassen, doch die Neugier überwog und wurde belohnt.

Was mir zum „Ideal“ fehlt, ist eine etwas besser ausbalancierte Aufnahmetechnik. Decca bietet eine gewohnte, gute Leistung. Teilweise sind mir die Chorstimmen aber zu stark vom Orchester, insbesondere von den Blechbläsern, überdeckt. Darunter leiden die Tenöre (wie so oft…) und die Bässe am meisten.

Vielleicht reicht es noch nicht ganz zum „Benchmark“, doch ich bin gespannt, wie es sich über die Zeit mit diesem Wurf leben lässt.

Zunächst muss ich die CDs von meinem Vater zurück erobern – ich verleihe gerne, doch ich merke, dass ich dieses Album noch nicht genug gehört habe!

Öffnet Eure Geldbeutel und Eure Ohren! Kauft bei einem Händler Eures Vertrauens, meidet das Internet und seid froh dieweil. Viel Spaß – jetzt ist die Zeit dafür!

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