Shockwork Orange – Enttäuschte Erwartung an das Unwiderstehliche

Was für ein arroganter Name: Himmel auf Erden. Geht’s ein bisschen kleiner?
Vorgeschichte:
Ich erinnere mich beim Lesen des Namens im PDF von Calistoga an Graf Adelmanns „Das Lied von der Erde“ – als Klassikfan, begeistert insbesondere auch für die Musik Gustav Mahlers, dachte ich: „Was für ein arroganter Name!“, und kam nicht umhin eine Flasche davon zu kaufen. Sehr geiler Name! Der Versuch ging ärgerlich schief (im Gefrierfach vergessen, „aufgefroren“, teure Schusseligkeit und Eile) und endete sozusagen gleich mit dem ersten Satz von Mahlers Sinfonie, dem „Trinklied vom Jammer der Erde“, nur dass ich ohne Trank mit dem Jammer allein war. Ein zweiter Versuch, zusammen mit meinem Vater (eine Quelle meiner Musikliebe und auch Mahlerfan), ist später geglückt. Ein toller Wein, aber es bleibt beim einem arroganten Namen…
Vom Lied nun direkt in den Himmel: kein Bier, kein Manna, Wein soll es sein, der mich dort hinführt.
Gemäß dem telefonischen Rat der netten Sommelière (liebe Grüße an Bianca!) habe ich den Wein dekantiert. Nein, karaffiert natürlich („dekantieren“ und „karaffieren“ sind beim Wein, was „Panierung“ und „Panade“ beim Essen sind).

Christian Tschida, 2010 Scheurebe maischevergoren

Christian Tschida, 2010 Scheurebe maischevergoren

Trüb und schmutzig, auch im Geruch und Geschmack. Es erinnert, verstärkt durch die Zeichnung auf dem Etikett, an Dinge, die ich hier gar nicht zu benennen wage. Nicht vom Duft, aber von der Art, schmutzig, etwas abstoßend und doch anziehend zu sein. Ich kann dann doch nicht davon lassen. Und das ist dann schon auch geil, in welchem Sinne des Wortes man das auch immer verstehen mag.
Mostig ist die Brühe, Apfelmost und Federweißer kommen mir in den Sinn; etwas säuerlich ist er und irgendwie ganz anders, als ich ihn mir seit Tagen der Vorfreude ausgemalt hatte. Wie genau, kann ich gar nicht sagen. Aber anders. Leckerer. Umarmend-einnehmend leckerer.
Kolophonium ist dabei, und das kam mir schon vom Wort sehr lange nicht mehr in den Sinn, war quasi gestrichen… sowas wie Zesten von Zitrusfrüchten, herb in der Nase und im Mund, und ziemlich kurz. Schluck und weg. DAS soll der Himmel auf Erden sein? Sowas kann nur einem morbid-masochistischen Wiener einfallen. Aber dass man im Burgenland so drauf ist?!
Einen veritablen „Orange Wine“ habe ich in Karaffe und Glas, wenn ich Dirk Würtz richtig verstanden habe: „maischevergoren“ heißt das Zauberwort, und das steht sogar auf dem Etikett.
Der Wein hat Luft, der Wein hat Zeit, ich schreibe diese Zeilen und merke mit jedem Schluck des sich erwärmenden Weins, dass dieser sich verändert. Es bleibt die Säure, die hinten die Kehle kitzelt, es bleibt das Derbe im Charakter…und doch…kommen Noten zum Klingen, die ich nicht erwartet hätte… „Rive Gauche“ von Yves Saint Laurent klingelt in den Erinnerungswindungen des Hippocampus, Blumen, feucht-floral, weiße Blumen, die ich mir nie merken kann – sind es Lilien? Die standen doch neulich beim Thai in Stuttgart… „Und eine neue Welt entspringt“ wäre die Worte eines anderen musikalischen Österreichers für das, was ich jetzt im Glas habe. Faszinierend, vielseitig, vielschichtig und abwechslungsreich, das ist er auf jeden Fall. Er ist so stark anziehend, dass ich nicht davon loskomme. Allerdings wandern zwei Drittel wieder in die Flasche und werden morgen und Sonntag zeigen, was passiert. Was bleibt? Eine „geile Enttäuschung“ könnte ich es nennen, sicherlich „Wein am Limit“ und ich bin gespannt auf den 2011er Bruder dieses Weines, nicht „orange“, sondern klassisch (?) und wahrscheinlich zivilisierter.

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2 Antworten zu Shockwork Orange – Enttäuschte Erwartung an das Unwiderstehliche

  1. Klaus Ruß schreibt:

    Sage mal, lieber ockertrocker, hast Du in letzter Zeit viel Kleist gelesen? „Das Weinbeben im Riesling“ oder wenigstens „Über die allmähliche Vergeistigung des Alkohols beim Trinken“? Standardwerke, mit ebenfalls grimmiger Verrätselung (hier schlägt Word „Verästelung“ vor – paßt irgend wie auch). Raffe Dich doch mal zu einer vergleichenden Besprechung des „Trinklieds“ auf; oftmals ist da mehr der Jammer des Stimmbands als der Erde zu vernehmen. Wir haben heute 5 Stunden „Lange Nacht der Romantik“ in der Alten Oper vor uns – u.a. mit Mojca Erdmann, der Kopatschinskaja… Liebe Grüße vom Mahlerfan Klaus

  2. ockertrocker schreibt:

    Ich habe gar keinen Kleist gelesen. Wobei „Die zerbrochene Karaffe“ hier sicherlich passend wäre.
    In einer facebook-Weingruppe erntete ich auf diesen Beitrag den liebevollen Kommentar „was für ein Gesülze“ von User Oliver H. An dieser Stelle ein Dankeschön dafür, hat mich das doch dazu bewogen, mein Sprachaspik direkt auf meinem Blog zu posten. 🙂

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